Ballenstedt/MZ – Meterhoch speit der Drache die Fontäne in seinem Wasserbecken. Das Rauschen ist weit zu hören. Dass die Sonne die Wassertropfen wie Kristalle funkeln lässt, sehen die Männer und Frauen nicht, die sich am Becken versammelt haben. Sie sehen auch Bettina Fügemann nicht, wie sie mit Strohhut und Biedermeierkleid vor ihnen steht und die Besonderheiten im Ballenstedter Schlosspark erklärt. Sie sind blind.
Sie hören, was die Frau vom Akzente-Verein ihnen erzählt, und sie sind neugierig. Es ist die erste Führung dieser Art, die der Verein mit dem Blinden- und Sehbehindertenverein unternimmt, der Menschen aus verschiedenen Städten des Landkreises versammelt. Den Schlosspark kenne er durchaus, aber so habe er ihn noch nie erlebt, sagt ein Mann, der seinen Blindenstock über den Boden streifen lässt.
Statt über die große Treppe führt Bettina Fügemann die Gruppe über einen Weg hinunter in den Park. Links und rechts frisch gemähte Wiesen. „Es gibt hier auf dem Weg Unebenheiten“, sagt sie und erklärt das mit den Bauhoffahrzeugen, die hier entlang gefahren sind. „Das Gras auf den Wiesen ist frisch gemäht“, sagt sie und schlägt den blauen Ordner auf, den sie unter dem Arm trägt. Er enthält Texte und Gedichte, die mit dem Schlosspark in Verbindung stehen oder eine Verbindung herstellen können, wie sich im Lauf der Führung zeigen wird. Doch jetzt gibt es erst einmal einen direkten Ausflug in die Stadtgeschichte.
„Besser mit Blümchen“
Bettina Fügemann zitiert aus der schwärmerischen Beschreibung der Schwestern Caroline und Wilhelmine Bardua, die sich über den von Joseph Peter Lenné geschaffenen Schlosspark freuen: „Ganz prächtig wirken die großen Rasenflächen, die jetzt in üppiger Frische prangen. Der Hofgärtner hat damit aber recht seine Sorge. Er will den Rasen durchaus ohne Blümchen, rein grün. Dem lieben Gott gefällt’s aber besser mit Blümchen, und er hat sich zu seinem Spaße und des Hofgärtners Ärger wenigstens den einen Rasenteppich ganz mit weißen Kleeköpfchen gestickt.“ „Na ja, die weißen Kleeköpfchen wurden gestern abgesäbelt, vom Rasentraktor“, sagt Bettina Fügemann, ehe sie die Gruppe über die Wiese führt. Ihr Ziel ist das Denkmal für Friederike. Die Stadt ließ es 1996 im Andenken an die Herzogin aufstellen, die sich für das soziale und kulturelle Wohl der Ballenstedter eingesetzt hat. Das Denkmal trägt eine schwarze Metallplatte mit einem Porträt, das einem Gemälde von Wilhelm von Kügelgen nachempfunden ist. Bettina Fügemann erklärt den Männern und Frauen, was sie ertasten. „Das sind große Ohrringe“, sagt eine Frau, die ihre Finger über das Gesicht Friederikes gleiten lässt.
Hören, Tasten, Schmecken und Riechen – das sind die Sinne, die bei dieser Führung angesprochen werden. Den Duft des Frühlings aber können die Männer und Frauen nur erahnen, denn der Regen, der erst kurz vor Beginn der Führung aufgehört hat, hat alles fortgespült. Es riecht nach nassem Gras und feuchter Erde.
„Pass auf, hier ist es matschig“, sagt eine Frau zu ihrem blinden Begleiter. „Ja, das habe ich schon gemerkt“, antwortet der. Er kennt den Schlosspark, „aber mit Führung ist das super“, sagt er. „Man lernt ihn besser kennen.“
„Diese Führung ist für mich ganz neu“, sagt Bettina Fügemann, die öfter Gästegruppen durch den Park führt. „Wo kann ich langgehen? Was muss ich beachten? Wo muss ich mehr beschreiben?“ Damit sich der Park auch denen erschließt, die die Bäume, Wiesen, Blumenbeete und Wasserbecken nicht oder nur sehr schwach sehen können.
Geschmack von der Wiese
Sie beschreibt viel, und sie drückt den Männern und Frauen kleine Blätter in die Hand: Giersch. Der wächst breit und wild. Und schmeckt. „Interessant“, sagt Hannelore Gebhardt, die ein Blatt zwischen den Fingern rollt, Geruch und Geschmack testet. Durch den Kontakt zwischen ihr und Bettina Fügemann ist diese Führung zustande gekommen. „Ich erfahre hier interessante Dinge, die ich bisher so nicht wusste“, sagt sie.
Die anderen in der Gruppe bestätigen das. Die Führung gefällt ihnen. „Die Außenwelt ist sehr unsicher, oft überfordert“, sagt eine Frau. Sie wünscht sich den Abbau von Barrieren, „insgesamt einen offeneren Umgang“. Und Alltagshilfen: Bei Treppen könne sie die Stufen nicht erkennen. Weiße Striche auf dem Steingrau wären da schon hilfreich, meint sie. Auch dass der Zebrastreifen am Netto in der Hoymer Straße in Ballenstedt verschwunden ist, sei nicht gut: „Wo da so viele Autos fahren.“
Der Rundgang endet an der Schlossmühle, in der Esther und Marcus Brockhaus ihr Künstleratelier eingerichtet haben. Die Gruppe ertastet die Skulpturen.
„Es war schön, mit Fühlen, Schmecken und Tasten“, sagt eine Frau. „Das gibt es nicht oft und wird wenig gemacht.“ Auch wenn es Museen gebe, in denen die Ausstellungsstücke berührt werden dürfen – der organisatorische Aufwand sei oft zu groß.
MZ |Quedlinburger Harzbote | lokal | 16.05.2023 | Seite 15
Von Rita Kunze